Mi, 8. Juni 2016

Sie fühlt Golf

Von Stephan Schöttl

Die Österreicherin Karin Becker ist eine der besten Blindengolferinnen der Welt. Sie baut auf dem Platz auf ihren Orientierungssinn.

Ganz langsam und hoch konzentriert schreitet Karin Becker die kurze Strecke auf dem Grün ab. Sie zählt dabei ihre Schritte, macht auf diese Weise die Entfernung zwischen ihrem Golfball und dem Loch aus. Fast auf den Zentimeter genau. Mit den Füßen tastet sie dabei immer wieder den Boden ab. Auf der Suche nach versteckten Breaks. Dann geht sie, begleitet von ihrem Guide, zurück, holt aus – und der Putt sitzt. Beckers Flightpartner staunen immer wieder. Über diese Sicherheit, über dieses besondere Gefühl, über diese sportliche Höchstleistung. Denn während sie mühevoll und oft lange versuchen, Breaks korrekt zu lesen und der Putt dann doch das Loch verfehlt, ist ihre Mitspielern fast blind, versenkt die kleine Kugel aber scheinbar doch mit Leichtigkeit. Das Sehvermögen der 43-jährigen Innsbruckerin beträgt zwischen sechs und sieben Prozent. Golfbälle, sagt sie, nehme sie beispielsweise nur als „kleine weiße Flecken“ wahr. Ihre Geschichte liest sich beeindruckend.

Ausgesprochen sportlich ist Karin Becker schon als Kind. Das Mädchen nimmt die Umwelt aber noch ganz anders wahr. Die vielen Farben der Natur, die Schönheit der Alpen. Dann folgt der Schicksalsschlag im Jahr 1992. Becker ist gerade einmal 20 Jahre jung, als sie fast ihr komplettes Augenlicht verliert. Aufgrund eines Gendefekts ist sie plötzlich hochgradig sehbehindert. Ein schrecklicher Moment. Noch heute, fast 25 Jahre später, ärgert sich Becker vor allem über das fehlende Einfühlvermögen der Ärzte. Über die Art und Weise, wie die Mediziner einer jungen Frau mitten in der Blüte ihres Lebens die Diagnose überbracht haben.  „Ich war oft kurz davor, mir das Leben zu nehmen“, erzählt Becker. Damals steckt sie mitten im Architekturstudium, so voller Tatendrang im zweiten Studienabschnitt, und sieht von heute auf morgen alle ihre Ziele davon schwimmen.

Doch Becker zeigt Stärke, holt sich psychologische Hilfe, verdrängt die Hiobsbotschaft weitgehend und beendet ihr Studium. Trotz des Wissens, nie wirklich in diesem Beruf tätig sein zu können. Sie lässt sich auch nicht von ihrem großen Hobby, dem Sport, abbringen, fährt weiter erfolgreich Ski und traut sich wenig später an eine neue Herausforderung: das Golfspiel. Im Golfclub Seefeld-Reith findet sie schnell eine sportliche Heimat. „Weil ich den Platz von Innsbruck aus auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann“, erklärt Becker. Das sei für sie ein besonders wichtiges Kriterium. Inzwischen hat sie Handicap 27 und blickt auf ihre bislang erfolgreichste Saison zurück. Die Innsbruckerin wurde 2015 zum zweiten Mal hintereinander Österreichische Staatsmeisterin für Golferinnen mit Behinderung, sie gewann die Austrian Blind Open genauso wie die Italian Blind Open in Mailand. Bei den prestigeträchtigen British Blind Open in Schottland wurde sie Zweite. „Ja, es lief letztes Jahr nicht schlecht für mich“, meint sie ganz bescheiden. Auch heuer spielt sie diese drei großen Turniere mit und hofft, sich für die Weltmeisterschaft im November in Japan zu qualifizieren.

Doch Karin Becker ist nicht nur Österreichs Aushängeschild und eine der besten Blindengolferinnen der Welt. Sie sieht sich selbst auch als eine Art Botschafterin für den Behindertensport im ganzen Land. „Ich veranstalte immer wieder Schnuppertage für Interessierte und kümmere mich um entsprechende Fördergelder“, sagt sie. Beim Österreichischen Golf-Verbands (ÖGV) sitzt die 43-Jährige in einem speziellen Gremium, das sich um die Belange der Golfer mit Behinderung kümmert. „Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen. Es gibt so viele Blinde, die gar nicht wissen, dass sie trotz ihrer Einschränkungen Golf spielen können“, erzählt Becker. Diesen Menschen will sie auch weiterhin ihren Lieblingssport näherbringen. Golf sei in dieser Hinsicht aber ohnehin noch eine Randsportart, weit hinter der Leichtathletik oder dem Laufsport etwa. Der ÖGV geht aber mit gutem Beispiel voran. Über Inklusion wird in der Verbandszentrale nicht nur diskutiert. „Die Behindertensportler sind komplett im ÖGV integriert und nicht in einem eigenen Verband ausgelagert“, sagt Karin Becker.

Am Golfsport liebt sie besonders die Unberechenbarkeit. „Jede Runde ist anders, jeder Tag bringt neue Herausforderungen“, meint sie. Herausforderungen, die bei sehbehinderten Sportlern die gleichen sind wie bei sehenden. Doch während so mancher ihrer Flightpartner nach einem verkorksten Abschlag fluchend sieht, wie die kleine weiße Kugel nach rechts Richtung Rough saust, hat Karin Becker das im Gefühl. In ihrem Fall im Gehör. „Wenn ich geschlagen habe, höre ich sofort, ob es perfekt war oder der Ball nach links beziehungsweise rechts weggeht“, erklärt sie. Und dieses besondere Gespür für Ball und Schläger zieht sich über die gesamte Runde. Becker selbst spricht von „einem außergewöhnlichen Orientierungssinn und einer ausgezeichneten Auffassungsgabe“. Sie bezeichnet es als kognitives Sehen. „Mein Gehirn sieht für mich und weil ich mir alles merke, stolpere ich auch nur ein einziges Mal über eine Stufe und dann nie wieder. Wenn man mir einmal gezeigt hat, wo die Toilette in einem Hotel ist, dann weiß ich das auch noch, wenn ich nach fünf Jahren wieder komme“, erklärt die Tirolerin.

Daher ist auch ein fremder Platz kaum ein Hindernis. Weil sie ihren Heimatplatz in Seefeld mittlerweile in- und auswendig kennt und anderswo eben „viel mehr auf den Guide hört“. Ein sprechendes GPS-Gerät sagt ihr die Entfernungen an. Zum nächsten Wasserhindernis zum Beispiel, bis zum Dogleg oder der Mitte des Grüns. Dann verlässt sie sich auf ihre Schlagroutine. Die ehrgeizige Sportlerin stellt sich eine Uhr vor – und holt entsprechend aus. Sie sagt: „Wenn ich mit einem Pitching-Wedge 50 Meter weit schlagen will, hole ich bis acht Uhr aus, bei zehn Uhr komme ich 75 Meter weit.“

Vor einem Abschlag wird sie zunächst von ihrem Guide Markus Huber ausgerichtet, dann folgt ein Probeschwung anhand dessen wiederum Huber den Ball entsprechend aufteet. Den Schlag führt die Golferin wieder selbst aus. Dann ist der Ball aber auch erst einmal weg, Entfernungen kann Becker nicht alleine einschätzen. Wichtig, erzählt sie, sei daher auf jeden Fall ein guter Draht zum persönlichen Guide. Quasi blindes Vertrauen. Dass sie ohne Partner an ihrer Seite tatsächlich aufgeschmissen ist, hat sie bereits erfahren. Auf einer der vielen Runde ist ihr Begleiter kurz weggegangen. „Ich musste dann jeden Schläger selber aus dem Bag herausfühlen, in dem ich die Zahlen an den Eisen ertastet habe“, erzählt Becker. Solche Situationen machen das ohnehin schon schwere Spiel noch schwerer. Den perfekten Guide stellt sich die 43-Jährige so vor: Er ist selbst ein guter Spieler, topfit in Regelkunde, aber nicht ehrgeiziger als der sehbehinderte oder blinde Golfer selbst. „Und er muss mich in meiner jeweiligen Tagesverfassung kennen und sich darauf einstellen können. Man sollte auf jeden Fall gut miteinander auskommen. Wir sind beste Freunde“, sagt sie. Und dieses Verhältnis nimmt selbst dann keinen Schaden, wenn Karin Becker in ihrer Freizeit wieder einmal eine Runde gegen ihren Guide und Caddy gewinnt.

http://www.alpengolfer.de/

Golf Foto 2